Erkundungsgang

erstellt von Manuel Reinhardt zuletzt verändert: 04.07.2018 13:26

Die Tür war unverschlossen. Sie traten durch eine kleine Diele in ein Zimmer, das wahrscheinlich mal das Wohnzimmer gewesen war. Draußen dämmerte es, und hier drinnen war es schon ziemlich duster. Überall waren Spinnweben und Staub. In der Wand zu ihrer Linken war ein offener Kamin, gegenüber stand eine Kommode aus dunklem Holz, die nur noch eine Schublade und klaffende Löcher in den Seiten hatte, ansonsten gab es keine Möbel. Auf dem Boden verteilt lagen Schutt, Bündel von Stofffetzen und allerlei Müll. Andrew war relativ sicher, dass sie eigentlich nicht hier sein sollten, aber er musste sich eingestehen, dass daran auch etwas Aufregendes war.

"Scanner", sagte TJ, und in ihrer Hand erschien eine Art grauer Bildschirm mit einem Griff, gerendert von Andrews Implantat und TJs Kontaktlinsen, und nur sichtbar für jemanden, der den Windfall-Channel aktiviert hatte. Sie hielt das virtuelle Gerät ein paar Sekunden in Richtung des Kamins, dann in Richtung der Kommode. Wenn sie auch in irgendeiner Art aufgeregt war, so ließ sie sich davon nichts anmerken.

Inzwischen aktivierte auch Andrew seinen Scanner und checkte einen der Müllhaufen. Manchmal waren die Caches an komischen Orten versteckt. Das blaue Symbol, das ihre virtuelle Anwesenheit anzeigte, blieb jedoch aus.

"Ich glaube, hier ist nichts", verkündete TJ. "Lass uns erst mal nach oben gehen."

Die Türen standen alle entweder offen oder waren nur noch leere Rahmen. Man konnte unmittelbar sehen, welche zur Treppe führte. TJ wollte sofort nach oben laufen, doch Andrew hielt sie zurück und versetzte den unteren Stufen ein paar experimentelle Tritte. Als er sich ausreichend vergewissert hatte, dass das Holz nicht sofort unter ihrem Gewicht zusammen brechen würde, ging er vorsichtig voraus. Auf halber Höhe der Treppe war ein Absatz. Hier hing ein Spiegel an der Wand, der vor Staub und Schmutz fast blind war. TJ scannte ihn - vergeblich - während Andrew um die Atmosphäre etwas aufzulockern Grimassen schnitt und sein schmutzverschmiertes Spiegelbild betrachtete. TJ knuffte ihn in die Seite und sah ihn streng an. Sie gingen weiter nach oben.

Oben bot sich ein ähnliches Bild wie im Erdgeschoss. Einige wenige Möbel standen vereinzelt herum. Müll lag verteilt, wenn auch nicht ganz so viel wie unten. Alles war von Staub bedeckt. Sie teilten sich auf: TJ ging nach rechts in ein Zimmer, Andrew wandte sich nach links ins Nebenzimmer. Seines war so gut wie leer, nur die Überreste eines Kleiderschrankes standen in der Zimmermitte. Andrew hielt den Scanner beiläufig auf den Schrank, doch er ahnte schon, dass dieser ein zu offensichtliches Versteck wäre. Während der simulierte Scan noch lief sah er sich beiläufig weiter im Zimmer um. Sein Blick fiel durch die Tür und auf den Spiegel an der Treppe. Er zuckte zusammen, als er begriff, was er sah: Im Spiegel war ein blauer Schemen, der der Größe und den Proportionen nach ein Mensch sein konnte. Unten war nichts Blaues von diesen Ausmaßen gewesen, das sich spiegeln konnte. Doch das seltsamste war, dass er die blaue Gestalt zu kennen glaubte. Er konnte sie durch die Schmutzschicht kaum erkennen, aber er hatte das bestimmte Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben.

Er musste hörbar eingeatmet haben, denn TJ fragte aus dem anderen Raum, "Ist alles OK?"

Andrew löste sich aus seiner Starre und rannte in Richtung Treppe. "Da ist jemand!" zischte er, als er an TJ vorbei stürmte, die gerade aus ihrem Zimmer kam. Er hastete die Treppe hinunter. Als er ins Wohnzimmer sehen konnte entfuhr ihm ein Aufschrei. Er hatte mit einer Überraschung gerechnet, aber nicht mit so einer. Der komplette Fußboden des Zimmers war rot. Blutrot. TJ, die hinter ihm die Treppe herunter kam, rannte ihn beinahe über den Haufen. Auch sie konnte einen Schrei nicht unterdrücken. "Was zum..."

Einen Moment lang standen beide nur da und starrten. Andrews Gehirn versuchte fieberhaft, eine andere Erklärung zu finden, als die, die sich aufdrängte. Er redete sich ein, dass es Farbe war, die den Boden des Wohnzimmers bedeckte, oder dass das Licht ihnen einen Streich spielte. Aber immer wieder kam er zurück zu einem Gedanken: Blut. Das Wohnzimmer war voll mit Blut. Jeder Zentimeter des Bodens war damit bedeckt.

Eine Sekunde später dämmerte es ihm. Er kam sich wie ein naives Kind vor. Er war mit CoRe groß geworden, und doch konnte ihn eine digitale Einblendung so aus der Fassung bringen. Oder war es das Implantat, das alles noch etwas realistischer erscheinen ließ?

"Haunt:ed!" rief er erleichtert. "Oder?" fügte er ein wenig unsicher hinzu.

TJ stöhnte und fasste sich an die Stirn. "Da hätte ich auch drauf kommen können. Diese Bastarde."

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