Jessie

erstellt von Manuel Reinhardt zuletzt verändert: 26.11.2012 23:41

Sie waren hinter ihm her. Er wusste nicht mehr, wie lange sie ihm schon auf den Fersen waren, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Er rannte, so schnell er konnte, aber er kam nur quälend langsam voran. Es war so dunkel, dass er die Häuser und einmündenden Straßen nur schemenhaft erkennen konnte. Er warf im Laufen einen Blick nach hinten. Er konnte niemanden sehen, aber er wusste, dass sie ihm schon ganz nahe waren. Er bog wahllos in eine Seitenstraße ab. Vielleicht konnte er sie abschütteln. Er lief eine Weile weiter, bog dann wieder ab, dann noch einmal, und wieder und wieder. Die Straßen wurden immer schmaler und noch dunkler, bis er sich in einer winzigen Gasse wiederfand, von der keine anderen Straßen mehr abzweigten. Er lief bis an ihr Ende und stand vor einer schmucklosen blauen Metalltür. Er öffnete sie und trat ein. Eine Treppe führte nach unten. Ohne nachzudenken stieg er hinab. Nachdem er eine ganze Weile Stufe um Stufe genommen hatte, erreichte er einen winzigen Flur, an dessen Ende eine identische Metalltür auf ihn wartete. Auch hier trat er ohne zu zögern ein.

Er erkannte sie sofort wieder. Davor hatte er sie immer nur als tiefblauen Schemen gesehen, dennoch gab es jetzt keinen Zweifel, wer vor ihm stand. Und er wusste jetzt auch ihren Namen. Jessie. "Jessie Light", ergänzte die blaue Gestalt. Ihre Stimme klang tief und melodisch. Sie sah aus wie aus Stein gemeißelt, aus dunkelblauem Stein. Ihre Gesichtszüge und ihre Körperform waren kantig, doch ihre Bewegungen waren so flüssig wie die eines normalen Menschen, wenn nicht sogar noch graziler. Fast konnte man ihr eine Art überirdische Anmut zuschreiben. Verstärkt wurde dieser Eindruck davon, dass ihr gesamter Körper leicht durchscheinend war.

"Gut, dass du endlich hier bist, Andrew." Andrew nickte. Ja, es war gut.

"Du weißt, dass du anders bist als die anderen." Wieder nickte Andrew, diesmal etwas zögerlicher. Ja, er fühlte sich anders, aber was genau unterschied ihn von den anderen? "Es gibt Leute, die dir wegnehmen wollen, was dich besonders macht. Nimm dich in Acht vor ihnen." Plötzlich fielen ihm seine Verfolger wieder ein. Seit er die erste der Türen betreten hatte, hatte er keinen Gedanken mehr an sie verschwendet. "Ich kann dir helfen, deine Fähigkeiten zu nutzen."

Jessie trat einen Schritt auf ihn zu, streckte ihre Hand aus und berührte ihn an der Stirn. Es fühlte sich an, als würde sie durch die Stirn hindurch in Andrews Kopf fassen. Doch es war kein bedrohliches Gefühl; es fühlte sich vertraut an, als sei Jessie keine Fremde in Andrews Gedanken. Irgendetwas geschah. Andrew konnte nicht sagen, was, aber es fühlte sich richtig an. Er war beinahe enttäuscht, als der Kontakt abbrach.

"Geh jetzt", sagte Jessie freundlich. "Wir sehen uns bald wieder."

Andrew bemerkte eine Tür hinter Jessie, die den zwei vorherigen genau glich. Er ergriff die Klinke und drückte sie herunter, zog die Tür auf und trat hindurch.

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