Ruderboot, Massage, Tresen

erstellt von Sebastian Schuster zuletzt verändert: 07.04.2015 22:27

Ernö Engström zapfte ein Tegernseer. Das Glas füllte sich leise bis zum Füllstrich. Ohne hinzusehen kippte er mit der linken Hand den Zapfhahn und stellte das Glas auf das trockene Handtuch auf dem Tresen.

Während er den letzten Absatz eines Artikels über die aktuelle Münchner Bevölkerungsentwicklung las. brachte er das Bier zu seinem künftigen Besitzer. Ernö nahm das leere Glas vom Bierfilz uns stellte das volle darauf. Der Gast nahm seine Augen kurz von seinem Spiel und nickte ihm dankend zu. Er kam nun schon die dritte Nacht in Folge in den Freiraum setzte sich in eine Ecke und spielte Decandency. Aus Prinzip mischte sich Ernö nicht von selbst in die Angelegenheiten seiner Gäste, fragte sich aber dennoch, warum der Gast das Freiraum seiner eigener Wohnung vorzog. Heute war er froh, wenn er nicht gestört wurde. er nickte zurück und machte sich zurück an seinen Platz hinterm Tresen. Sein Projekt war ins Stocken geraten und er war fest entschlossen, daran etwas zu ändern.

Der Abend war so ruhig wie erwartet. Die wenigen Gäste boten gerade genug Ablenkung, dass er sich nicht in Details verlor, wenn er über das Jahr 2112 nachdachte. Er war hochmotiviert eine neue Storyline anzufangen, nur wollte ihm um nichts in der Welt ein Aufhänger dafür einfallen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass ein Abend mit lockerer Arbeit gerade die richtige Balance aus Konzentration und Ablenkung für neue Inspiration bot. Wenn nicht sogar die Geschichten der Gäste des Freiraums selbst die Inspiration frei Haus lieferten. Er hatte mehr als eine Geschichte aus den Gesprächen mit Andrew gezogen. Die beiden waren auf eine ganz eigene Art seelenverwandt. Zwei Freigeister, die in ständigem Kontakt zur Netzwelt standen. Die Gespräche zwischen den beiden waren von einem eigenen Tempo bestimmt, in dem fehlende Information in der Konversation ohne Unterbrechung vom Netz ergänzt wurde. Sie konnten in einer halben Stunde mehr Themen abdecken als Münchens OB in einem Jahr. Doch beim letzten Besuch wirkte er abgelenkt, abwesend. Ernö konnte gerade so aus ihm heraus bekommen, dass er aktuell an einem Forschungsprogramm als Testkandidat teilnahm. Er dachte eigentlich, dass Andrew als Information Orchestrator genug Geld verdiente um sich ein Leben für sich und notfalls Gravity leisten zu können. Geldknappheit wird es wohl in 50 Jahren auch geben. Aber irgendwie fixte Ernö das Thema nicht an.

Die Verrückten aus Joes Clique waren da schon vielversprechender. Sie kamen neulich nach einem Konzert von 7-62 in den Freiraum. Eigentlich hatten sie genug getrunken an dem Abend - das konnte man hören als sie noch 50 Meter vom Freiraum entfernt waren. Sie hatten aber in einer solchen Begeisterung vom Konzert gesprochen, dass Ernö ihnen am Ende noch einen Willy ausgegeben hatte. Da fiel ihm ein: Wie waren sie überhaupt an die Karten gekommen? Die Show war Wochen vorher ausverkauft gewesen.

Musik, das könnte ein Aufhänger sein. Novitäten in Kreation waren seit den 40ern totgesagt und dennoch kam immer wieder was Neues. Was war der nächste Schritt? Ernö überlegte, mit wem er sich über Musik unterhalten konnte, ging die Liste seiner Stammgäste durch, als die Tür sich öffnete und zwei Gestalten von der Straßen reinwehte. Er kannte die beiden nicht. Ein Mann und eine Frau. Sie wirkte äußerst aufgedreht, fuchtelte mit den Armen und sprang auf und ab während sie auf den Mann einredete.

Vielleicht wurde der Abend doch nicht so ruhig.

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